Kohlweg, 09./10.08.2017

Die Fußgängerbrücke, die über die Eisenbahnschienen führt, unterbricht den Kohlweg, dessen südliches Ende in den Avantgardebezirk rund um die Eisenbahnstraße weist. Nördlich gelangt man nach Schönefeld. Ausreichend Getränke – Bier und Radler – hatten wir bei dem jungen Türken am Tresen bezahlt, der die zentralen Kühlschränke in Selbstbedienung regelmäßig auffüllt, um Nachbarn und Studierende auch nach 22 Uhr zu versorgen.  Ungelenk bestieg ich mein Fahrrad, während die Freunde des Verkäufers ihren Auftritt vor dem erleuchteten Schaufenster fortsetzten. Ihre kantig rasierten Hinterköpfe, die raschen Wortwechsel und das permanente Gefummel mit billigen Smartphones erlebten wir als Multi-Kulti-Charme, den wir in Leipzig oft vermisst hatten. Mehr und wertvoller war das da plötzlich und vermeintlich anders als ein einfacher „Späti“, wie er in der Südvorstadt vielerorts anzutreffen ist.  Die Zigaretten befanden sich in der Nylon-Vaude-Tasche, die D. während der Fahrt diagonal schulterte – optisch ein Zitat aus den Neunzigern, das dort ansonsten nicht zu finden ist. Auf der Brücke saß bereits ein einziges Paar, deutlich jünger als wir. Mit Sicherheitsabstand setzten wir uns daneben. Auch wir suchten die grandiose Aussicht auf Stadt und Schienen und schützten unser Gespräch vorsorglich vor lautem Geplapper und Gelächter. Der Asphalt war noch warm und erinnerte an ein elektrisches Wärmkissen, gerade eingestöpselt und gerne von Rückenkranken und Einsamen genutzt. Das Metallgitter der seitlichen Brückenbefestigung war unsere Rückenlehne und kalt. Die hellen Laternen unterstützten den Großstadteindruck. Ungewöhnlich stark war der Zugverkehr unter uns, dafür die Anzahl der Menschen, welche die Brücke von Süden nach Norden passierten, gering.  Zwei Männer in Cargohosen trugen Preßspanplatten in Türgröße an uns vorbei. Als sie zurückkamen, war ein kleines Fenster in die Tür geschnitten. Noch ein Paar setzte sich. Der Taillenbund des Mädchens endete weit über dem Bauchnabel, die Kunstledertasche war klein und mit schmalem Band – eine Ode an die 80er und bei h&m sicherlich im Dauersortiment zu kaufen. Ihr Freund gab ihr „be brave“ mit auf den Weg, während sie sich raschen Schrittes Richtung Schönefeld entfernte. Ihr Gesicht war zu schwach beleuchtet, als daß ich später erkennen konnte, ob sie Drogen gekauft hatte oder einfach nur im Gebüsch Pinkeln war. Die nächste Kleingruppe trug eine verschlossene Flasche Sekt vor sich her. Das Knallen des Korkens einige Minuten später erinnerte an Silvester.  In der Eckkneipe an der Eisenbahnstraße mit leuchtend roten Plastikstühlen vor der Tür, bekannt aus billigen Strandbars in Italien und Spanien, gab es nicht nur die Möglichkeit, unkompliziert zur Toilette zu gehen, sondern auch Tischtennis zu spielen. Wir kauften neue Getränke, um nicht den Eindruck zu erwecken, ausschließlich die attraktiven Serviceangebote nutzen zu wollen. Die Discokugel hing im großen Gastraum mittig. Das rote Sofa stand auf der ehemaligen Bühnenempore, die durch die neue Anordnung der Möbel die Blickrichtung gewechselt hatte. Das Publikum war nun die Bühne. Als zwei der wenigen Gäste waren wir gegenüber Barkraft und seiner Entourage in der absoluten Minderheit.  Die Mischung aus Basecap und Schiebermütze, kombiniert mit kurzen Hosen, möglicherweise Tennissocken und geschätzten zehn Freunden, die an der Bar rumhingen und zum Inventar dazuzählten, was er uns freundlich, aber bestimmt zehn Minuten vor Schließung mitteilte, hatte etwas betont Lässiges. D. war von Anbeginn einverstanden mit disparater Musik, improvisiertem Setting und erwog sogar, Tischtennis zu viert zu spielen, wohingegen ich mich erst bei Musik à la Velvet Underground zu entspannen begann und froh war, daß alle im Innenraum rauchten und unförmige Aschenbecher aus Glas auf den Resopaltischchen bereitstanden.  Die Großgruppe Studierender, von D. als „Expedia“ betitelt, von mir ebenso falsch als „Erasmus“ benannt – mittlerweile müssen Generationen seit „Sokrates“, das nach „Erasmus“ folgte, vergangen sein – blieb nur kurz. Sie zogen weiter zu etwas, das als „flat“ oder „WG“ beschrieben wurde. Wir wußten nicht, ob dies ein Club oder einfach nur die Bleibe von einem der Beteiligten war. Auch hier verströmten die englischen Wortfetzen etwas Cosmopolitisches, das wir bereitwillig aufsaugten. D. bedauerte, gleich wieder in seinen Kiez am Südplatz zurückradeln zu müssen. Wäre es doch so viel naheliegender, in einer der benachbarten Seitenstraßen den Schlüsselbund aus der Tasche zu ziehen und dort seine Wohnungstür aufzuschließen.  Das schwarz gekleidete Wesen neben mir, das auf dem Teppichboden in unregelmäßigen Abständen eine Mischung aus Poweryoga, laszivem Hüftschwung und einer „Ich bin müde-Performance“ veranstaltet hatte, dafür allerdings viel zu wenig bewundernde Blicke der Expedia-Teilnehmer erhielt, sprang unvermittelt auf, als wieder das Signalwort „flat“ fiel. Der Barmann trauerte der Gruppe nicht nach, zumal diese ihre Drinks selbst mitgebracht hatten.  Wir fuhren bei Regen nach Hause und freuten uns, wie rasch wir das Zentrum erreichen konnten. Es waren keine 15 Minuten. Und der Abend hatte uns nicht einmal 20 Euro gekostet.

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